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Apfelduft

von Lothar Bendig

Lässt du uns mal vorbei?“, schnaufte die dicke blonde Frau mit den beiden Einkaufstaschen und sah den dunkelhaarigen, ärmlich gekleideten Jungen, der an der engsten Stelle auf der Marktgasse seelenruhig an einen Laternenpfahl lehnte, ungeduldig an. Der etwa elf Jahre alte Bengel reagierte nicht und schenkte ihr nur einen gelangweilten Blick. Doch dann bemerkte er das Mädchen in dem geblümten Kleid, das hinter der Frau herlief, und seine Haltung straffte sich. Große schwarze Augen funkelten ihn aus einem hellbraunen Gesicht unter kurzen, krausen Haaren entrüstet an. Plötzlich verzog sich der Mund des Mädchens jedoch zu einem amüsierten Lächeln. Sie griff in eine der prall gefüllten Einkaufstaschen der Frau und holte einen rot-goldenen Apfel hervor.

Der ist für dich, wenn du uns vorbei lässt.“ Er starrte sie mit offenem Mund an, griff instinktiv nach dem Apfel und machte bereitwillig Platz. Das Mädchen erinnerte ihn an seine Heimat in Nordafrika. Dort hatte er gelebt, bevor seine Familie nach Deutschland gezogen war, weil sein Vater hoffte, hier besser Arbeit zu finden. Die Kleine schien etwa sein Alter zu haben. Doch wie kam sie an diese typisch deutsche Frau? Wahrscheinlich adoptiert?

Die beiden drängten sich an ihm vorbei und sein Interesse an dem Mädchen flaute gleich wieder ab. „Was geht mich das an“, murmelte er, wischte den Apfel am Ärmel seiner Jacke ab und hob ihn zum Mund, um hinein zu beißen. Doch er hielt inne, als ihm ein verlockender Duft in die Nase stieg. Er atmete tief ein, um dieses Aroma zu genießen. Er wusste gar nicht, dass Äpfel so gut riechen konnten. Doch halt, da war noch ein anderer Duft! Und plötzlich stand das Gesicht des Mädchens wieder vor seinen Augen. „Du musst sie dir doch noch einmal ansehen“, sagte er sich, steckte den Apfel in die weite Tasche seiner ausgebeulten Jacke und begann, in dem Gewühl auf dem Markt nach ihr zu suchen.

Er drängte sich unsanft durch die dichte Menschenmenge, die den Markt bevölkerte, und ignorierte die empörten Bemerkungen der Erwachsenen, die sein Verhalten rücksichtslos fanden. Aber nirgendwo fand er die dicke Frau mit dem Mädchen. „Sie sind vielleicht schon weg“, dachte er resigniert, aber plötzlich hörte er laute Schreie. Rechts in einer der Gassen zwischen den Marktständen entstand ein Tumult. Er erkannte erst die markige Stimme der dicken Frau und dann die des Mädchens, das verzweifelt um Hilfe rief. Die Menschenmenge in der Gasse teilte sich schlagartig und ein dunkelhäutiger, vierschrötiger Mann rannte durch die dadurch entstandene Doppelreihe. Er schwang drohend ein langes, blitzendes Messer in der Hand, vor dem die Leute panikartig zur Seite spritzten. Mit der anderen Hand zog er das Mädchen mit sich, das sich heftig wehrte. Sie kamen direkt auf den Jungen zu.

Dieser schnappte sich in höchster Not eine flache Kiste mit Äpfeln vom nächsten Marktstand und kippte sie dem heranstürmenden Mann vor die Füße. Erwartungsgemäß rutschte dieser auf den Früchten aus, die unter seinen Schuhen schmatzend zerbarsten, und er fiel der Länge nach hin. Sein Messer bohrte sich in einen großen Boskopapfel. Der Obsthändler und sein Gehilfe, zwei kräftige Burschen, die den frechen Apfeldieb hatten ergreifen wollen, stürzten sich stattdessen auf den am Boden liegenden Entführer und überwältigen ihn. Jemand rief die Polizei herbei.

Was wollte der Mann von dir?“ fragte der Junge das Mädchen.

Der Typ ist schon vor einer Weile bei uns aufgetaucht und hat behauptet, ich sei das Kind seines verstorbenen Cousins, der letztes Jahr zusammen mit seiner Frau tödlich verunglückt ist. Er hält es nicht für richtig, dass ich nun bei dieser deutschen Familie lebe.“

Und was meinst du?“

Sie zeigte auf die lebhaft gestikulierende Frau, die den Polizisten wortreich den Hergang der versuchten Entführung erklärte. „Das ist meine neue Mama! Sie und ihr Mann, mein neuer Papa, sind sehr gut zu mir.“

Plötzlich fiel dem Jungen der geschenkte Apfel ein und er klaubte ihn aus der Tasche hervor. „Dem hast du es zu verdanken, dass ich dich gesucht und gerettet habe. Rieche doch mal wie der duftet! Es gehört dir. Ich gebe ihn dir zurück“.

Aber nein, ich habe ihn dir doch geschenkt“, sagte sie betroffen, und als er abwehrte, sagte sie: „Dann essen wir ihn halt zusammen!“ Makellose weiße Zähne gruben sich in die Frucht, so dass es richtig krachte. Dann gab sie ihm den angebissenen Apfel, den er andächtig verzehrte, ohne den Blick von ihrem Gesicht zu lassen.

Die dicke Frau trat jetzt zu ihnen und ihr Gesicht strahlte den Jungen an. Aber entweder fand sie nicht die richtigen Worte, um ihre Freude auszudrücken, oder sie war noch zu sehr außer Atem. Dafür klopfte sie ihm immer wieder auf die Schulter und stammelte: „Danke! Danke , mein Junge!“

Wir müssen jetzt gehen“, sagte das Mädchen plötzlich, „sonst komme ich zu spät zur Nachmittagsschule.“ Sie nahm eine Hand ihrer Adoptivmutter, aber im Gehen drehte sie sich noch einmal um und raunte dem Jungen zu: „Wir kaufen hier jeden Donnerstag ein. Vielleicht sieht man sich mal wieder.“