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Die neue Maschine

von Lothar Bendig

Es herrschte gespannte Aufregung im Betrieb, als der Direktor unerwartet seine Konstrukteure zu einer dringenden Sitzung zusammenrief. „Meine Herren“, begann er ohne Umschweife, „die Konkurrenz macht uns das Leben schwer und unsere Produkte sind bald nicht mehr verkäuflich. Die Maschinenbaureihe, die noch unter der Leitung meines Vaters entwickelt wurde, ist zu schwer und zu teuer. Solide Technik, aber nichts mehr für die heutigen Märkte. Ich erwarte von ihnen in neun Monaten den Prototyp einer neuen Konstruktion, die modern und wettbewerbsfähig ist.“ Mit diesen Worten waren sie auch schon wieder entlassen, aber jeder wusste, dass diese Aufforderung verdammt ernst zu nehmen war. Der Juniorchef spaßte nicht und konnte knallhart werden.

Zurück an ihren Zeichenbrettern standen die Konstrukteure ratlos beieinander. „Der Chef hat gut reden“, polterte der Konstruktionsleiter los. „Unsere Produkte haben sich weltweit bewährt, weil es stabile Maschinen sind, in denen viel Erfahrung steckt.“

Die anderen murmelten beistimmend. Nur der junge Maschinenbauingenieur, Andreas, hatte etwas zu sagen und hob die Hand. „Ich meine, wir sollten die Mathematik anwenden, um unsere Maschinen vorherzuberechnen, bevor wir sie bauen. Mit den Differentialgleichungen der Physik kann man technische Systeme simulieren und optimieren.“

Das gibt doch unübersehbare Formeln“, bemerkte einer der älteren Konstrukteure, „mit denen keiner umgehen kann. Und, wie wir alle wissen, verhält sich die Praxis doch anders als die Theorie.“

Es gibt heute Verfahren, bei denen man jedes Objekt in kleine, leicht berechenbare Einheiten zerlegt, die man Finite Elemente nennt, und diese dann zum gesamten System kombiniert“, wandte Andreas ein.

Der Konstruktionsleiter hielt nichts von diesen modernen Methoden, aber er sah eine Möglichkeit, die ungeliebte Aufgabe, die ihnen der Chef gestellt hatte, weiterzudelegieren. Und schließlich fiel auch keinem anderen was Besseres ein.

Wann könnten sie solche Berechnungen fertig haben?“, wandte er sich an Andreas. Dieser begann zu stottern, fing sich aber schnell und sagte wagemutig:

Ich brauche ein halbes Jahr dazu.“

Gut“, sagte der Konstruktionsleiter. „Sie sind ab sofort der Projektleiter „Neue Maschine“. Ich verlasse mich auf sie.“

Andreas war überrascht über diese spontane Entscheidung, aber das Projekt war seine Chance. Nun konnte er zeigen, was in ihm steckte. Als Kind einer Arbeiterfamilie waren eine Lehre nach der Mittleren Reife und ein Fachhochschulstudium das Äußerste, was seine Eltern ihm hatten bieten können. 1970, nach dem Studium, war er hier in der Firma am Zeichenbrett gelandet, wo er sich in klassischer Konstruktion üben musste. Seine Interessen lagen aber in der mathematischen Analyse seines Fachgebietes, und in seiner Freizeit studierte er Bücher über Theoretische Mechanik und Numerische Mathematik.

Hoch motiviert stürzte Andreas sich nun in die Arbeit, schleppte Zeichnungen und Bücher nach Hause, rechnete, skizzierte, leitete mathematische Gleichungen ab und kam kaum noch ins Bett. Nach einigen Wochen packte seine Freundin ihre Sachen. „Es hat keinen Sinn mehr mit uns“, sagte sie mit bitterer Stimme. „Du nimmst mich ja gar nicht mehr wahr.“ Andreas schreckte aus seinen Gedanken hoch.

Aber ich hatte dir doch erklärt, wie wichtig das für mich ist. In ein paar Monaten ist das vorbei und alles wird wie früher.“

Dann kannst du dich ja bei mir melden“, sagte sie mit zweifelndem Gesichtsausdruck und ging.

Von nun an wurde es einsam um Andreas. Er magerte ab und bekam Ränder unter den Augen. Der Konstruktionsleiter schüttelte mehr als einmal besorgt seinen Kopf. Aber er griff nicht ein, weil er wusste, dass sein junger Mitarbeiter nicht aufgeben würde.

Eines Abends packte Andreas alle Blätter, auf denen er seine Gleichungen entwickelt hatte, resigniert zu einem Stapel von beachtlicher Höhe zusammen. Er hatte das Problem nun analysiert. Aber das auszurechnen und in praktisch brauchbare Zahlen umzusetzen würde sein ganzes Leben dauern. Er zitterte vor nervlicher Erschöpfung, und da er keine Ruhe finden konnte, verließ er die Wohnung und landete nach einem längeren Fußmarsch in einer Studentenkneipe.

Er setzte sich an die Bar, bestellte ein Bier und grübelte vor sich hin, als plötzlich eine weibliche Stimme neben ihm ertönte. „Ist der Platz hier noch frei?“ Eine junge, lebhaft wirkende Blondine in Jeans und Pullover sah ihn fragend an.

Andreas schreckte aus seinen Gedanken hoch. „Natürlich ist hier noch frei.“

Bist du zum ersten Mal hier?“, fragte sie, nachdem sie auf den Barhocker geklettert war. „Ich habe dich noch nie hier gesehen.“

Ja, ich bin durch Zufall hier reingestolpert. Ich brauchte einfach ein bisschen Ablenkung. Und du? Bist du Studentin?“

Das nicht, aber ich arbeite als Programmiererin im Rechenzentrum.“ Sie hieß Karin und sie plauderte munter drauf los, über ihre Arbeit, die Computer und die Kollegen. Andreas hörte ihr mit wachsendem Interesse zu. Auch, weil diese Frau so unheimlich attraktiv war. Plötzlich strich sie mit Hand über seine Stirn und sagte mit besorgter Stimme:

Du siehst so bedrückt aus. Deine Stirn ist voller Falten. Darf ich den Grund deiner Verstimmung erfahren? Oder ist dir meine Gesellschaft unsympathisch?“

Nein, im Gegenteil“, beeilte er sich zu versichern. Und dann sprudelte es aus ihm heraus. Von der Arbeit, die er sich gemachte hatte, um ein technisches Problem mathematisch zu lösen, und dem Dilemma, in dem er nun steckte. „Wenn ich jetzt das Handtuch werfe, schmeißt meine Firma mich raus.“

Die Blondine lachte. „Das Schicksal hat gewusst, warum es uns heute Abend zusammengeführt hat. Ich glaube, ich kann dir helfen.“ Und als er sie zweifelnd ansah, fügte sie hinzu:

Komm heute Nacht mit zu mir. Du bist nämlich ein sympathischer Junge. Und dann sehen wir weiter.“

Am nächsten Morgen hatten sie beide verschlafen, aber Andreas fühlte sich gut und sein Elan war zurückgekehrt. „Besuch mich heute Nachmittag im Rechenzentrum“, sagte Karin zum Abschied. „Da werde ich dir einiges zeigen.“

Der Konstruktionsleiter nahm es nicht übel, als Andreas erst um elf Uhr in der Firma auftauchte, und er hatte auch Verständnis dafür, dass dieser sich am Nachmittag ins Rechenzentrum der Universität abmeldete. Im Grunde war er froh darüber, dass sein junger Mitarbeiter sich um die Anwendung dieser modernen Computer in der Praxis kümmerte. Er selbst fühlte sich zu alt dazu.

Im Rechenzentrum, in dem reges Leben herrschte, wartete Karin schon auf ihn und zeigte ihm voll Stolz die Computer mit ihrer Peripherie und erklärte ihm den Betriebsablauf. Dann führte sie ihn in ein Besprechungszimmer. „Ich will dich einigen Leuten vorstellen.“

Andreas lernte dort eine Gruppe von Wissenschaftlern kennen, die sich sehr detailliert nach seiner Arbeit erkundigten. „Sie sind auf dem richtigen Wege“, sagte einer von ihnen schließlich. „In der Anwendung der Mathematik liegt auch für die Industrie die Zukunft. Die Gleichungen, die sie abgeleitet haben, führen auf große Tabellen von Zahlen, den sogenannten Matrizen, und die kann nur ein Computer bewältigen. Sie können fertige Software einsetzen, die auf der Methode der Finiten Elemente beruht, aber auch eigene Programme entwerfen. Als Erstes sollten sie aber programmieren lernen.“

Wo kann ich das denn möglichst schnell lernen?“, entfuhr es Andreas, aber Karin zog ihn lachend auf den Flur und flüsterte ihm ins Ohr: „Bei mir! Ich freue mich schon darauf“.

Von nun an verbrachte er fast jeden Abend bei ihr, und sie brachte ihm die Programmierung mathematischer Algorithmen bei. Mit weiblicher List verstand sie es, dabei auch Gelegenheiten für Zärtlichkeiten zu schaffen. Aber das bremste sein Lerntempo nicht und wirkte sogar motivierend. Ab und zu verbrachte er eine Nacht bei ihr, und sie nahm es nicht übel, wenn er vor dem Einschlafen noch nach Papier und Bleistift griff, um auf ihrem schönen Rücken einige Programmzeilen zu notieren.

Du hast jetzt genug gelernt“, sagte sie eines Morgens, „um deine Gleichungen in Programme umsetzen zu können. Das Problem dabei ist, dass das Geld kostet. Deine Firma sollte jetzt ein Konto beim Rechenzentrum eröffnen, über welches die Computerzeiten abgerechnet werden können.“

Andreas hatte das erwartet und ihm wurde mulmig zumute. Er hatte er dem Seniorchef schon einmal vorgeschlagen, für die Entwicklung einen Computer anzuschaffen. Dieser hatte ihn entgeistert angesehen, war rot angelaufen und hatte Andreas schließlich angebrüllt: „Meine Konstrukteure haben bisher mit dem Rechenschieber gearbeitet und die besten Maschinen in der Branche gebaut. Junger Mann, hören sie auf, darüber nachzudenken, wie sie mein Geld verschwenden können.“

Der Juniorchef war aufgeschlossener und Andreas meldete sich zu einem Gespräch bei ihm an. Er wurde freundlich empfangen und der Direktor hörte sich seine Ausführungen geduldig an. „Was kostet das denn?“, fragte er schließlich, und als Andreas ihm eine Zahl nannte, machte er ein bedenkliches Gesicht.

Wir werden natürlich das Geld längerfristig durch kürzere Entwicklungszeiten und geringere Produktionskosten wieder einsparen“, beeilte Andreas sich zu versichern.

Nun gut. Einen Versuch können wir machen. Aber ich möchte nicht in ihrer Haut stecken, wenn das schief geht.“

Den letzten Satz hatte Andreas schon nicht mehr gehört und voll Elan stürzte er sich in die Arbeit. In kurzer Zeit entstanden seine Programme, und das Rechenzentrum hatte sogar ein kleines Forschungsbudget bereitgestellt, um eine Finite-Elemente-Berechnung für ein kritisches Bauteil zu finanzieren. Eines Tages war es dann soweit. Andreas legte dem Konstruktionsleiter den Zeichnungssatz der neuen, mathematisch optimierten Maschine vor.

Während der Herstellung des Prototyps nahm er Urlaub, um zu regenerieren. Das Projekt hatte ihm mehr abverlangt, als er geahnt hatte. Dann war die neue Maschine fertig und die Belegschaft versammelte sich in der Werkstatt, um dem ersten Test beizuwohnen. Der älteste und beste Mechaniker des Unternehmens durfte das elegant aussehende Gerät bedienen, und er schaltete es mit Ehrfurcht ein. Die Maschine lief leise an und fuhr vibrationsfrei hoch. Der Mechaniker legte einige Werkstücke ein und probierte sämtlich Einstellungen und Arbeitsgänge der Maschine durch, die alle Aufgaben behaglich schnurrend und mühelos erledigte.

Dann schaltete der Mechaniker die Maschine aus, drehte sich zu den Versammelten um und sagte: „Das ist das Beste, was ich bisher bedient habe.“

Großer Jubel brach aus und alles drängte sich um Andreas, um ihm zu gratulieren. Das Ereignis musste natürlich begossen werden, aber während der Feier zupfte der Chef Andreas am Ärmel und zog ihn in sein Büro.

Ihre hervorragende Leistung hat natürlich Konsequenzen. Ich möchte mit Ihnen darüber sprechen, wie wir ihre Fähigkeiten zukünftig am besten einsetzen und honorieren können.“ Er verstummte, als Andreas den Kopf schüttelte.

Ich habe mich mittlerweile um ein Stipendium bemüht, um noch mal studieren zu können. Es ist nicht viel Geld, aber es muss reichen. In der Anwendung der Mathematik für die Simulation technischer Prozesse liegt heute, im Computerzeitalter, unsere Zukunft, und ich möchte in vorderster Reihe mit dabei sein. Zum nächsten Semester habe ich mich für Mathematik und Informatik eingeschrieben und werde hier rechtzeitig kündigen.“

Der Chef war bei Andreas Worten bleich geworden, fasste sich aber schnell. „Als Student können sie einen Zuverdienst gebrauchen. Ich biete ihnen eine Teilzeittätigkeit an. Dann können sie uns weiterhin helfen, computergestützte Methoden in den Konstruktionsprozess einzuführen.“ Andreas nahm dieses Angebot dankbar an.

Auch sonst sah er einer glücklichen Zukunft entgegen. Karin hatte ihm vorgeschlagen, seine Wohnung aufzugeben und zu ihr zu ziehen. „Ich habe mich so an dich gewöhnt, dass ich dich immer in meiner Nähe brauche. Und es ist besser, wenn du deine Mathematikbücher bei mir im Bett wälzt, als bei einer anderen“, fügte sie mit verschmitztem Lächeln, aber entschiedener Stimme hinzu.