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Ein Ouzo zu viel


von Lothar Bendig


Dimítris starrte trübsinnig ins Wasser des träge heran­schwappenden Meeres. Nach einem letzten Zug an seiner Ziga­rette warf er die bis auf den Filter heruntergebrannte Kippe ins Wasser. Der letzte Lebensmut hatte ihn verlassen. Seine Frau Selina hatte ihm die Koffer vor die Tür ge­stellt, vom Fischen war er die letzten Tage ohne Fang heim­gekehrt und die Bank hatte ihm gedroht, sein neues Boot be­schlagnahmen zu lassen, weil er die Kreditrate schon drei­mal hintereinander nicht bezahlt hatte.

Obwohl es noch früh am Tag war, beschloss er, in die Hafen­bar zu gehen, um sich von seinen letzten Drachmen zu be­trinken. Eigentlich war es ja eine ganz normale Taverne, aber Giánnis, der Wirt, hatte sich die hochtrabende Be­zeichnung „Nachtbar“ ausgedacht. Und seit er Thékla als Bardame eingestellt hatte, die auch so etwas wie einen Striptease hinlegen konnte, war die namentliche Aufwertung vielleicht auch gerechtfertigt.

Im Seemannsgang, aber mit hängenden Schultern steuerte Dimítris auf die Bar zu, die um diese Zeit noch leer war. „Nanu“, begrüßte der Wirt ihn mit verwundertem Gesicht. „Hat Poseidon dir die Laune verdorben?“

Wenn es nur die Laune wäre, ging es ja noch. Aber ich möchte am liebsten alles hinschmeißen und mich im Meer er­tränken. Da Dumme ist nur, dass ich der beste Schwimmer auf der ganzen Insel bin.“

Thékla sah sofort, was los war, rutschte einen Barhocker weiter und forderte Dimítris auf, neben ihr Platz zu nehmen. „Spendierst Du mir einen Drink?“, flötete sie. „Dann hör ich mir auch an, was dich in so schlechte Stimmung gebracht hat. Glaub mir“, setzte sie hinzu, „mit ein oder zwei Ouzos im Magen ist Thékla die beste Thera­peutin hier im Hafen.“

Das behauptet meine Frau von sich auch immer“, jammerte er. „Aber ob die Therapie einer Frau in meinem Zustand das Richtige ist? Also, ich weiß nicht“.

Was hast du gegen uns Frauen?“, protestierte Thékla vor­wurfsvoll. „Gefalle ich dir heute etwa nicht?“ Sie beugte sich soweit zu ihm rüber, dass ihre nur notdürftig durch einen zu kleinen BH gebändigten üppigen Brüste schier aus dem Kleid zu springen schienen. Dimítris spürte, wie ihm warm wurde, aber das konnte noch von seinem Marsch durch die heiße Mittagssonne kommen, die um diese Tageszeit immer erbarmungslos vom azurblauen Himmel herunterbrannte.

Es riss sich von dem Anblick los und wandte sich an den Wirt. „Gib der Dame, was sie wünscht“, sagte er und ver­suchte, lässig zu wirken.

Giánnis maß ein Schnapsglas Ouzo ab, goss den Inhalt in ein größeres Glas um und füllte dieses mit Wasser auf. Die glasklare Farbe schlug sofort in ein milchiges Weiß um. Dann fügte er noch zwei Würfen Eis und einen Trinkhalm hinzu und stellte Thékla das Getränk hin. Diese begann sofort, an dem Halm zu nuckeln.

Und was willst du trinken?“, fragte er Dimítris.

Genau so ein Glas voll, aber nur Ouzo. Kein Wasser, kein Eis, keinen Strohhalm!“

Empört baute sich der Wirt vor ihm auf, stemmte beide Arme in die Seiten und blitzte ihn an. „Mein Ouzo ist der beste der ganzen Insel, wurde mehrere Jahre gelagert und hat 40% Alkohol“, belehrte er Dimítris. „Den säuft man nicht wie Wasser! Kultivierte Kenner genießen den: Tropfen für Tropfen.“

Für einen Kenner hatte sich Dimítris in manchen Dingen schon gehalten. Aber „kultiviert“? Das hatte noch keiner von ihm erwartet. Kerzengrade setzte er sich auf seinem Hocker auf. „Dann gebe mir der Wirt, was ihm beliebt“, sagte er mit gezierter Stimme. Gut, dass seine alte Lehrerin ihm in der Schule beigebracht hatte, wie man sich gewählt ausdrückt, schoss es ihm durch den Kopf.

Giánnis klopfte ihm begütigend auf die Schulter. „Schon gut, schon gut. Brauchst nicht gleich so förmlich zu werden. Aber schau mal: Der Ouzo ist ein Getränk, das es schon seit über fünfhundert Jahre gibt und das sowohl von den Griechen als auch von den Türken gebrannt wird.“ Er füllte ein Ouzoglas ab und stellte es vor Dimítris hin.

Von den Türken?“, fragte dieser. Er sah das Getränk misstrauisch an.

Die Türken sind ein Kulturvolk“, belehrte der Wirt ihn mit erhobenem Zeigefinger. „Auch wenn wir Griechen das lange Zeit nicht wahrhaben wollten.“

Dimítris roch an dem Glas. Dann kippte er den Inhalt mit einem Zug hinunter. „Schmeckt wie ganz normaler griechi­scher Ouzo.“

Dummkopf!“, entfuhr es dem Wirt. „Natürlich ist das ein griechisches Produkt. Ich wollte dir nur etwas über die Entstehungsgeschichte des Getränkes vermitteln. Der Ouzo wird nämlich aus reinem Alkohol und verschiedene Kräutern und Gewürzen hergestellt, vor allem Anis- und Fenchel­samen.“

Ein Dummkopf bin ich noch lange nicht“, protestierte der Fischer mit gekränktem Gesicht. „Aber bevor du mit deinen Belehrungen weiter machst: Schenk mir noch ein Glas ein.“ Der Wirt öffnete die Flasche und schenkte nach.

Yamas!“, sagte er, als er das Glas wieder vor Dimítris hinstellte. Dessen Interesse schien jedoch plötzlich von etwas anderem in den Bann gezogen worden zu sein.

Du, lass mich doch mal sehen!“ Er ergriff die Flasche, bevor Giánnis sie wieder wegstellen konnte, und betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. „Ein handgeschriebener Auf­kleber! Brennst du den Schnaps etwa selbst?“ Der Wirt lief rot an, Thékla kicherte. „Deshalb kennst du dich mit der Herstellung so gut aus. Schwarzbrennen ist in Griechenland verboten. Auch auf unserer Insel.“

Giánnis hatte sich schnell wieder gefangen. „Was denkst du von mir, Dimítris? Der ist vom Festland aus einer richtigen Ouzo-Fabrik. Ich bekomme ihn in großen Flaschen angeliefert und muss ihn in kleinere umfüllen. Da, schau her! Da steht der Name des Herstellers. Der Geschäftsführer ist übrigens ein Vetter von mir.

Dimítris wirkte nicht so, als ob er überzeugt sei und Thékla hielt sich beide Hände vors Gesicht und prustete. Der Wirt hatte es eilig, da Thema zu wechseln.

Du warst doch so deprimiert, als du ankamst. Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“

Ja, erzähl mal!“, fügte Thékla hinzu und rutschte noch ein Stück näher.

Meine Frau hat mich rausgeworfen. Das Haus gehört ja ihr. Sie hat es von ihrem Großvater geerbt. Sie meint, ich könne die Familie nicht mehr ernähren und sei deshalb über­flüssig. Kann ich denn dafür, dass es keine Fische mehr bei uns im Meer gibt?“

Giánnis räusperte sich. „Fische gibt es noch genügend. Aber deine Kollegen fahren schon morgens um 3:00 Uhr aufs Meer hinaus, während du noch mit deiner Selina im Bett liegst. Wenn du dann bei hellem Sonnenschein mit deinem Boot an­kommst, haben die Fischschwärme alle Zeit der Welt, sich dünne zu machen.“ Er sah Dimítris herausfordernd an.

Irgendwas muss man doch vom Leben haben“, maulte der. „Nicht nur Arbeit und die halbe Nacht auf dem Meer herum­kreuzen. „Gib mir noch einen Ouzo.“ Er schob Giánnis das Glas hin.

Das ist aber der letzte!“ Der Wirt entkorkte die Flasche, hielt aber mitten in der Einschenkbewegung inne und fragte: „Hast du überhaupt Geld?“

Statt einer Antwort griff Dimítris in seine Hose und brachte eine Handvoll Münzen zum Vorschein, die er auf die Theke legte. Giánnis schenkte ihnen nur einen abschätzigen Blick. „Komm, lass mal! Heute bist du mein Gast. Steck dein Kleingeld wieder weg. Nächstes Jahr bekommen wir den Euro. Dann ist es sowieso nichts mehr wert.“

Na, ich weiß nicht“, erwiderte der Fischer mit zweifelndem Blick und versenkte die Münzen wieder in der Weite seiner Hosentaschen. Dann hob er das Glas und wandte sich zu Thékla. „Yamas!“, sagte er mit angeheiterter Stimme. „Habe ich dir heute schon gesagt, dass du eine wunderschöne Frau bist?“

Die Bardame lächelte geschmeichelt. „Mach doch mal ein bisschen Musik“, sagte sie zu Giánnis. Der Wirt legte eine CD auf. Thékla fuhr wie elektrisiert vom Barhocker hoch, als eine Bouzouki aus den Lautsprechern erklang, deren Melodie nach einigen einleitenden Akkorden in einen Sirtaki überging. „Soll ich für dich tanzen?“, sagte sie eifrig zu Dimítris. Ich kann einen echt griechischen Strip. Der ist in Athen zurzeit ganz groß im Kommen, aber es heißt, den hätte seinerzeit schon Aphrodite für Paris getanzt.“ Die Augen des Fischers leuchteten auf, als die Bardame vom Hocker rutschte und anfing, schlangenhafte Bewegungen auszuführen.

Nichts da, nichts da!“, protestierte Giánnis. „Striptease gibst bei mir erst ab 22:00 Uhr. Solange musst du deinen Hang zum Exhibitionismus zügeln.“

Meinen Hang zu was?“ Thékla sah ihn mit offenem Mund an. „Ist das ein Schimpfwort?“

Ist schon gut“, brummte der Wirt. „Setz dich wieder hin. Im Übrigen: Bei der angespannten finanziellen Lage unseres Gastes ist Striptease ohnehin nicht drin.“

Dimítris machte ein enttäuschtes Gesicht, als Thékla wieder auf ihren Hocker kletterte. „Dann gib mir wenigsten noch was zum Trinken“, sagte er zum Wirt und schob ihm das leere Glas wieder hin.

Du solltest es mal zusammen mit Wasser probieren, so wie Thékla den Ouzo trinkt und wie es bei uns auch üblich ist. Dann steigt er nicht so schnell zu Kopf.“

Willst du mich vergiften?“, fuhr der Fischer auf. „Schon meine Großmutter sagte immer, man solle nicht zwei Getränke durcheinander trinken.“

Also, mir schmeckt er so“, meinte Thékla und saugte den Rest ihres Drinks geräuschvoll mit dem Strohhalm aus dem Glas.

Frauen haben ja auch einen ganz anderen Stoffwechsel als wir Männer“, belehrte Dimítris sie. „Aber unverdünnt schmeckt er einfach besser.“

Dann will ich auch einen pur.“ Sie schob dem Wirt eben­falls ihr Glas hin.

Du kriegst Mineralwasser“, entschied dieser. „Der Tag ist noch lang und du sollst hier arbeiten und dich nicht be­trinken.“

Dann schenkte er Dimítris noch einen Ouzo ein. „Das ist aber wirklich der letzte!“, sagte er mit Nachdruck. „Wir sollten jetzt drüber nachdenken, wie wir das Problem mit dir und deiner Frau lösen können.“ Der Wirt kratzte sich am Kopf. „So ganz verstehe ich allerdings noch nicht, warum deine Frau dich rausschmeißt, nur weil dein Fischergeschäft mal nicht gut läuft. Da muss doch noch was anderes sein.“ Er sah Dimítris prüfend an.

Wie … wieso?“, stotterte dieser und blickte verlegen zu Thékla. Die bekam einen roten Kopf und steckte ihre Nase ganz tief in ihr Glas.

Ihr werdet doch nicht …?“, sagte Giánnis mit ahnungsvollem Gesicht.

Wir doch nicht!“, kam es wie aus einem Munde. „Was denkst du denn von uns?“

Ich glaub euch kein Wort. Eure Gesichter sprechen Bände. Wie ist dir deine Frau denn draufgekommen?“

Ich weiß nicht“, jammerte Dimítris, kippte den Inhalt seines Glases in einem Schluck hinunter und schob es dem Wirt wieder hin. „Aber an Selina ist ein guter Detektiv verloren gegangen. Egal, wie schlau ich etwas einfädle, sie hat mich letzten Endes immer wieder ertappt.“

Der Wirt sah ihn verständnisvoll an und füllte gedankenlos wieder das leere Glas. Zu Thékla gewandt sagte er in vor­wurfsvollem Ton: „Und du solltest dir endlich einen festen Freund zulegen und nicht immer die verheirateten Männer des Dorfes in Versuchung führen.“

Dann müsste es schon einer wie Dimítris sein“, sagte sie schnippisch und legte ihren Arm um den Fischer.

Dieser hatte inzwischen sein Glas wieder geleert. „Dich würde ich sofort nehmen, wenn ich nicht schon verheiratet wäre“, lallte er. Mit diesen Worten sackte sein Kopf auf seine auf der Theke aufgelegten Arme und er fing an zu schnarchen. Langsam kam sein Körper jedoch ins Rutschen und die Bardame konnte nicht verhindern, dass er unsanft auf dem Boden landete. Das machte ihn wieder wach. Er richtete sich auf und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf.

Das war ein Ouzo zu viel“, stellte der Wirt kopfschüttelnd fest. Er half Dimítris wieder auf die Beine. „Komm, häng dich bei mir ein! Ich bringe dich nach Hause. Und mit Selina werde ich mal ein Wörtchen reden. Schließlich ist sie ja meine Cousine.“

Thékla war raubkatzenhaft von ihrem Hocker herunterge­glitten. „Aber ich kann ihn doch nach Hause bringen.“

Nichts da! Du bleibst da sitzen. Wenn er heute wieder in deinem Bett landet, hängt der Haussegen bei ihm erst rich­tig schief.“