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Kater Bruno

von Marita und Lothar Bendig


Schon der zweite Tag, an dem es nichts zum Essen gibt! Nicoletta erscheint sonst immer pünktlich mit den Resten ihres kärglichen Mahls.

Bruno hat sich daran gewöhnt, den lieben langen Tag auf den uralten Gemäuern vor sich hinzudösen in der Gewissheit, dass eine der alten Frauen aus der Umgebung die Reste ihrer Pasta vorbei bringt.

Dies ist in Rom seit langer Zeit Sitte!

Auch jetzt hockt Bruno auf dem Überrest einer Säule im Forum Romanum. Sein Fell hat im Laufe der Zeit die Farbe der alten Mauern angenommen. Bekümmert schaut er hinüber zum Kolosseum. 'Normalerweise kommt sie immer um die gleiche Zeit. Selbst wenn die Sonne unerbittlich brennt und eine Dunstglocke über der Stadt hängt, die ihr das Atmen schwer macht, füttert sie mich stets an diesem Platz.'

Er schaut sich erneut nach allen Seiten um, legt sich wieder hin und beschließt, seinen Hunger noch einige Zeit zu ignorieren, bis vielleicht doch was passiert. Heute ist Freitag und an diesem Tag gibt es Spaghetti Pescatore, Brunos Lieblingsmahlzeit.

Zwischen Nicoletta und Bruno besteht schon eine lange Freundschaft. Die Frau hatte „ihrem Kater“ diesen Namen gegeben und ruft ihn, wenn er nicht am gewohnten Platz auf sie wartet. Das geschieht allerdings selten. Da es viele hungrige Katzen in Rom gibt, sorgt Bruno dafür, dass ihm keine andere zuvorkommt.

'Vielleicht ist sie krank oder sogar tot', geht es ihm durch den Kopf. 'In ihrem Alter kann das schnell gehen. Sie könnte ja auch weggezogen sein. Aber dann höchstens in ein Altersheim. Und dort bleibt für die streunenden Katzen von Rom vom Essen nichts übrig. Wie dem auch sei. Wenn sie nicht mehr kommt, werde ich mir einen anderen Platz suchen. Es wird ohnehin zu gefährlich hier.'

Viele von Brunos Artgenossen sind in letzter Zeit verschwunden. Es gibt grauenhafte Gerüchte über die Ursache. Seine Freundin Meta hat ihm davon erzählt. Er mag es nicht glauben.

Jetzt kann Bruno das Knurren seines Magens nicht länger ignorieren. Er erhebt sich und beschließt, zum Kolosseum hinüber zu laufen. 'Vielleicht sucht Nicoletta mich dort', denkt er hoffnungsvoll. 'In letzter Zeit wirkte sie etwas zerstreut. Alzheimer nennen die Menschen das. Vielleicht hat sie meinen Stammplatz vergessen', versucht er, sich einzureden.

Langsam trottet er über den großen Platz. Da vernimmt er aufgeregte Stimmen, die befehlende eines Mannes und die weinerlichen von zwei Mädchen. Es sieht einen grobschlächtigen, dunkelhäutigen Kerl mit schwarzen Haaren, der zwei ebenso dunkle Mädchen in zerlumpten Kleidern anbrüllt. „An die Arbeit! Ihr habt heute noch nichts eingenommen. Wovon sollen wir leben?“

Die Kinder, etwa 10 bis 12 Jahre alt, versuchen, sich mit schriller Stimme zu verteidigen, aber als der Mann beide kräftig an den Ohren zieht, schleichen sie geduckt davon. „Seht zu, dass ihr gute Beute macht! Und lasst euch nicht erwischen!“, ruft er ihnen noch hinterher.

Bruno ist mittlerweile an einem der Eingänge zum Kolosseum angekommen und sucht sich eine Stelle in der Sonne, von der aus er den ganzen Platz überblicken kann. Die beiden Mädchen treiben jetzt ihr Spiel, das Bruno schon oft beobachtet hat. Sie nähern sich den Touristen, halten ihnen ein Schild dicht vor die Augen und versuchen dann, sie zu bestehlen. An diesem Morgen hatten sie jedoch noch keinen Erfolg.

Nach einer Weile nähert sich ein junger Mann. Rotblondes Haar, krebsrot verbrannte Haut und die Kleidung lassen auf einen Engländer schließen. Die gleiche Szene spielt sich ab. Der Engländer wehrt ab, doch die Mädchen sind mittlerweile so verzweifelt, dass sie ihn an seinen Armen festhalten. Es gelingt ihnen, ihm die Armbanduhr zu entreißen, und sie rennen zum Kolosseum, geradewegs auf Bruno zu. Dieser springt entsetzt auf alle Viere und flüchtet mit einem Satz auf einen Mauervorsprung. Der junge Mann, der den Kindern hinterher gelaufen ist, hat sie bald eingeholt. Eines der Mädchen schreit mit gellender Stimme, als er ihr seine Uhr wieder abnimmt.

Plötzlich steht, wie aus dem Boden gewachsen, der dunkelhäutige Mann vor ihm. „Lass meine Mädchen in Ruhe oder .....!“ Er zieht ein blitzendes Messer hervor und hält es dem Engländer drohend vor die Nase.

That's my watch!“, schreit der Tourist und versucht, den Mann beiseite zu stoßen. Dieser packt das Messer fester, als wolle er zustechen. Bruno, der alles beobachtet hat, spreizt plötzlich die Pfoten, faucht mörderisch, springt dem Mann auf den Kopf und krallt sich in seinen Haaren fest. Der Engländer nutzt die Gelegenheit und verschwindet schnell mit seiner Uhr. Der dunkelhäutige Mann greift nach Bruno, aber dieser springt rechtzeitig auf die Mauer zurück und kann dem auf ihn niedersausenden Messerhieb nur um Haaresbreite entkommen.

Du Bestie“, flucht der Mann mit verzerrtem Gesicht. „Das wirst du mir bezahlen! Warte nur, bis es dunkel wird.“

Bruno flieht in das Innere des Kolosseums und hält erst inne, als er sich in Sicherheit glaubt. Er verkriecht sich in einer Höhle zwischen den alten Steinen und beginnt, sich sein Fell zu lecken. Der Hunger meldet sich wieder, jetzt so heftig, dass seine Eingeweide zu meutern beginnen und er sich zusammenkrümmt. Vorsichtig schleicht er in die alten Gewölbe unter dem Kolosseum. Hier gibt es Mäuse in Hülle und Fülle. Die schmecken nicht so gut, wie die Spaghetti der alten Nicoletta, aber es bleibt ihm keine andere Wahl. Nach kurzer Zeit ist seine Jagd erfolgreich und er kann seinen Hunger auf artgerechte Weise stillen. Er würgt noch am Fell der Maus, als er sich wieder nach oben begibt und anfängt, in den alten Gängen herumzuschleichen, um sich einen sicheren Platz für die Nacht zu suchen.

Hinter einer Biegung bleibt er wie angewurzelt stehen. Alle Haare seines rotbraunen Fells sträuben sich und Entsetzen packt ihn. Da liegt bewegungslos eine menschliche Gestalt. Es ist Nicoletta. Vertrocknetes Blut, das aus ihrem Kopf unter den grauen Haaren hervorgequollen ist, verklebt ihr Gesicht. Die alte Blechschüssel ist ihr aus der Hand gefallen und die Spaghetti liegen verstreut auf dem Boden. Brunos Instinkt meldet ihm sofort, dass sie tot ist. Offenbar ermordet! Ihr schönes Kopftuch und ihre abgewetzte Ledertasche fehlen.

Bruno setzt sich auf die Hinterbeine und fängt an, jämmerlich zu miauen. Ein hierdurch angelocktes Touristenpaar gerät in Panik und schreit lauthals: „Man muss die Polizei rufen! Das sieht nach einem Verbrechen aus.“ Schnell zieht sich Bruno in eine Nische zurück. Die Polizei ist bald danach zur Stelle.

Offenbar ein Raubmord“, sagt einer der Beamten mit emotionsloser Stimme. „Schon der dritte in diesem Monat. Ich kenne die alte Frau. Sie ist alleinstehend und keiner wird sie vermissen. Mal sehen, was die von der Spurensicherung herausbringen.“

Ich bin skeptisch“, erwidert sein Kollege. „Bei dem vielen Gesindel, das sich hier im Sommer herumtreibt, gibt es jedes Jahr eine Reihe von nicht aufgeklärten Verbrechen. Und wie will man da als Kriminalbeamter auch nur den Hauch einer Spur finden, wenn jede persönliche Beziehung zwischen Täter und Opfer fehlt.“

Ein herbeigerufener Leichenwagen transportiert die tote Frau ab.

Bruno zittert vor Erregung. Es hält es in den dunklen Gewölben nicht mehr aus, schleicht nach draußen unter einen Busch an der Mauer des Kolosseums und legt sich in das vertrocknete Gras. Er weint, so wie Katzen weinen können. Für ein menschliches Ohr klingt das wie ein klägliches Miauen, aber es nimmt keiner Notiz von ihm.

Unvermittelt richtet er sich auf und setzt sich angespannt auf seine Hinterbeine. Sein empfindliches Gehör hat ihm Laute zugetragen, die ihn in Alarmzustand versetzen. Er sieht den dunklen Mann, der sich mit seinen Töchtern unweit von Brunos Lagerplatz auf der Wiese niederlässt. Diesmal ist eine Frau mittleren Alters dabei, offenbar die Mutter der Kinder. Bruno erkennt sofort, was seine Aufmerksamkeit erregt hat: Die Frau trägt Nicolettas Kopftuch und deren Tasche baumelt an ihrem schmutzigen Arm. Eines der Mädchen zählt das Geld, das es im Laufe des Tages offenbar ergaunert hat. Es hat dabei das abgegriffene gelbe Portemonnaie von Nicoletta in der Hand. Der Mann klopft seiner Tochter anerkennend auf die Schultern, als sie ihm die Geldscheine übergibt.

Bruno weiß nun, dass er den Mörder der alten Frau vor sich hat.

Vorsichtig zieht er sich zurück, aber nicht vorsichtig genug. „Da ist wieder diese Bestie“, ruft der Mann, der ihn entdeckt hat, ergreift einen faustgroßen Stein und wirft ihn nach dem Kater. Bruno kann nicht verhindern, dass der Stein sein rechtes Ohr streift. Er verschwindet panikartig in langen Sätzen in den Mauern des Kolosseums. „Dich erwisch ich noch!“, ruft ihm der Mann hinterher. „Deine Tage sind gezählt. Wir hatten ohnehin lange keinen Katzenbraten mehr“, sagte er dann zu seiner Frau und rülpst ordinär.

Bruno versteckt sich wieder auf seinem alten Lagerplatz. Aber seine Nerven vibrieren. Auch unter den anderen Katzen herrscht eine spürbare Unruhe. Er muss an die Erzählungen seiner Freundin, der roten Meta, denken und ein Gefühl des Grauens überkommt ihn. Er beschließt, diese Nacht noch wachsamer als sonst zu sein.

Nach Einbruch der Dunkelheit schleichen einige finstere Gestalten in das Kolosseum. Sie lassen sich in der Mitte nieder und bald lodert ein Lagerfeuer hoch. Der Geruch von gebratenem Fleisch erfüllt die Umgebung. Hungrige Katzen umkreisen das Feuer in immer enger werdenden Bahnen. Die Männer locken sie, indem sie ihnen rohe Stückchen Fleisch hinhalten. Obwohl der Hunger sich in Brunos Eingeweiden wieder schmerzhaft bemerkbar macht, widersteht er der Versuchung, es seinen Artgenossen gleich zu tun. Eine dunkle Ahnung warnt ihn davor, diesen Männer zu nahe zu kommen.

Plötzlich ertönt ein lautes, fauchendes Kreischen, wie der Todesschrei einer Katze. Und dann noch einmal und ein drittes Mal. Diesmal war es der Schrei von Meta. Wie von Sinnen rast Bruno los, mitten hinein in die Arena. Einer der Männer hat gerade begonnen, einer Katze das Fell abzuziehen. Es ist der widerwärtige Typ, den er schon vorher kennen gelernt hatte. Der Mörder von Nicoletta! Bruno stürmt fauchend auf ihn zu, alle Krallen gespreizt und die scharfen Zähne entblößt. Der Mann versucht, ihn fassen, behält jedoch nur ein Büschel Katzenhaare zwischen den Fingern zurück. Die vor Wut und Schmerz schreiende Katze umkreist ihn und sucht nach einer neuen Angriffsmöglichkeit. Mit überraschender Schnelligkeit springt der Mann auf die Beine, packt sein „Schlachtmesser“ und rennt auf Bruno zu. Dieser weicht zurück und springt geschickt auf die höher liegenden Reste des alten Gemäuers. Aber der Kerl folgt ihm, von Stein zu Stein springend immer höher, bis in die oberste Etage des Kolosseums. Doch dann stellt Bruno fest, dass er vor einem offenen Durchbruch in der Mauer in eine Falle gegangen ist. Vor ihm gähnt das schwarze Loch, hinter ihm nähert sich die wütende Gestalt mit dem blutigen Messer, entschlossen, ihn zu töten. Bruno macht einen Satz zur Seite, als der Mann ihn ergreifen will, und kann nur mit knapper Not vermeiden, dass er durch das Loch in die finstere Nacht hinunter auf den harten Boden vor das Kolosseum fällt. Sein Verfolger kommt ins Stolpern und bleibt erst kurz vor dem Abgrund schwankend stehen. Mit blutunterlaufenen Augen dreht er sich zu Bruno hin. Dieser springt verzweifelt in die hässliche Fratze des Mörders und vergräbt dort die Krallen seiner Vordertatzen. Der Mann stürzt mit einem Aufgurgeln nach hinten und versucht verzweifelt, sich festzuhalten. Aber seine Hände greifen ins Leere und mit einem tierischen Schrei verschwindet er in der Tiefe. Bruno dreht sich im Fallen um seine Körperachse, landet auf der Unterkante des Durchbruchs und krallt sich mit allen vier Pfoten fest.

Die Menschen vor dem Kolosseum, die zu einem Nachtspaziergang hierher gekommen sind, schreien entsetzt auf, als der schwere Körper eines Mannes vor ihren Füßen auf dem Boden aufschlägt. Blut spritzt nach allen Seiten und das im Todeskrampf verzerrte Gesicht lässt die Leute erstarren.

Seht doch mal!“, ruft plötzlich einer von ihnen: „Da oben, die Katze!“

Bruno, der mit durchgedrücktem Buckel und aufgerichtetem Schwanz an der Steinkante steht, faucht die Menschen wild an.

Ob die ihn darunter gestoßen hat?“.

Unsinn“, sagt ein anderer: „So ein kleines Tier. Wahrscheinlich hat die Katze sich dort verstiegen und der Mann wollte sie retten. Seine Hilfsbereitschaft ist ihm nun selber zum Verhängnis geworden.“

Niemand beachtet das blutige Messer, das nicht weit von der Aufprallstelle liegt.