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Mordlust

von Lothar Bendig


Hast Du einen Mann mit einer roten Rose gesehen?“, fragte die elegant gekleidete Dame atemlos einen verwahrlosten Jungen mit roten Haaren, der an einer Straßenlaterne lehnte. Der etwa zehnjährige Bengel zog die Nase hoch und sah sie teilnahmslos an. „Kann schon sein“, gab er widerstrebend zur Antwort und verlagerte sein Kaugummi in die andere Backe. Panik stieg in ihr hoch. War sie zu spät gekommen? Einer Eingebung folgend griff sie in ihre Handtasche und holte ein Geldstück hervor. „Das ist für dich, wenn dir noch etwas einfällt.“ Der Junge griff sofort nach der Münze und zeigte mit der freien Hand nach links.

Dahin ist er gegangen.“ Ihre Augen folgten der angegebenen Richtung, und dann sah sie ihn an der Straßenecke. Ein gut gebauter, etwas untersetzter Mann mit markantem Kopf und glattem Haar. Dieser drehte eine Rose unschlüssig in der Hand hin und her, als überlege er, ob er sie wegwerfen solle. Sie lief schnell auf ihn zu.

Als er sie sah, hellte sich sein Gesicht zu einem strahlenden Lächeln auf. Das selbstbewusste Lächeln eines erfolgreichen Mannes. „Sind sie Sylvia? Ich dachte schon, sie hätten mich versetzt. Das wäre mir noch nie passiert,“ setzte er selbstsicher hinzu. „Ich bin Manfred.“

Nur ein kleiner Verkehrsstau“, sagte sie beschwichtigend. „Ich freue mich, dich zu sehen. Ich darf doch Du sagen?“.

Natürlich! Wo gehen wir hin?“

Sie führte ihn in ein kleines Bistro, das sie bereits vor Tagen ausgesucht hatte. Französisches Essen und Rotwein ergaben ihrer Meinung nach eine ideale Atmosphäre, um sich näher kennen zu lernen. Der Kontakt war über das Internet zustande gekommen.

Sie haben viel Wert auf mein Sternzeichen gelegt“, sagte Manfred lachend. „Warum musste es unbedingt ein Stier sein?“ Sie gab zunächst keine Antwort, als habe sie seine Frage nicht verstanden. Bilder aus der Vergangenheit tauchten in ihrem Kopf auf, von ihrem Bruder, der sie begehrte und kein Hehl daraus machte. „Ich bin ein Stier“, pflegte er immer zu sagen. Vor mir ist nichts sicher.“

Ich bevorzuge starke, zielstrebige Männer“, sagte sie schließlich zögernd und setze ein Lächeln auf, das ihm etwas sarkastisch vorkam. Aber er wischte das als Einbildung beiseite und fragte weiter:

Und du bist Skorpion, wenn ich das richtig verstanden habe? Verzeih meine Neugier, aber um Sternzeichen habe ich mich noch nie gekümmert, weil ich sie für etwas völlig Unwichtiges hielt.“

Ganz im Gegenteil“, widersprach sie bestimmt, „sie sind sehr wichtig und haben großen Einfluss auf das Leben der Menschen.“ Ihr kam der tragische Moment damals in den Sinn, als ihr Bruder sein eindeutiges Interesse für sie in die Tat umsetzte und mit Gewalt Sex mit ihr erzwingen wollte. Sie hatte sich zuerst gewehrt, dann aber nachgegeben. Ihre Mutter, eine sehr religiöse Frau, überraschte die beiden und hatte in rasender Wut ihren Sohn mit einem Messer erstochen. Das Gericht hatte mildernde Umstände anerkannt und sie vor dem Gefängnis bewahrt, aber sie war seit dieser Zeit geistig verwirrt und lebte heute in einer psychiatrischen Anstalt.

Welche Einflüsse?“, fragte Manfred weiter.

Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als hätte sie seine Gegenwart für einen Moment vergessen. Wenn aus dem Abend noch etwas werden sollte, musste sie charmanter und aufmerksamer sein. Schließlich hatte sie sich hier zu einem Rendezvous mit einem Mann getroffen.

In der Liebe zum Beispiel“, gab sie schließlich zur Antwort und setzte einen verführerischen Blick auf. Er fühlte sich dadurch ermuntert, wartete weitere Erläuterungen gar nicht ab und plauderte munter darauf los. Er war den ganzen Tag auf einer Reise gewesen und anschließend gleich hierher gekommen. Sylvia gefiel ihm und er nahm jede Gelegenheit zur körperlichen Berührung wahr. Als er unter dem Tisch seine Hand auf ihr Knie legte wusste sie, dass er es auf ein baldiges erotisches Abenteuer mit ihr abgesehen hatte. Sie machte es ihm leicht und fragte plötzlich:

Wohnst du hier in der Nähe? Was hältst du davon, wenn wir zu dir gehen?“ Er hätte argwöhnisch werden sollen über die schnelle Entwicklung dieser neuen Beziehung. Stattdessen fühlte er sich in seiner männlichen Eitelkeit bestätigt. Er zahlte, sie verließen das Bistro und fuhren ein paar Straßen weiter zu seiner Wohnung. Diese war gepflegt und typisch männlich eingerichtet mit dunklen, funktionellen Möbeln.

Ich mach uns was zum trinken“, sagte Manfred und half ihr aus dem Mantel.

Hast du einen Balkon hier?“

Er wies auf das Schlafzimmer. „Dann haben wir es nachher nicht mehr so weit“, grinste er und verschwand in der Küche. Sie öffnete die Balkontür und trat nach draußen. Er war dunkel geworden und am Himmel funkelten schon die Sterne. Der Mond leuchtete gespenstisch. Nach ihrem astrologischen Kalender stand er heute im Sternbild des Stiers.

Morgens war sie wieder in der Anstalt gewesen. Es war jedes Mal wie ein Stich ins Herz, wenn sie den apathischen Zustand ihrer Mutter sah. Als sie versehentlich den Namen ihres Bruders nannte, fing die alte Frau an, hysterisch zu schreien und konnte nur mit Hilfe einer Spritze beruhigt werden.

Hier bist du!“, ertönte die Stimme von Manfred und riss sie aus dem Grübeln. „Auf eine lange Nacht“, sagte er und reichte ihr einen Cocktail. „Bewunderst du die Sterne, Sylvia? Stehen sie günstig für uns?“ Er lachte laut auf über den vermeintlichen Scherz, aber sie sagte ruhig:

Sie könnten nicht besser stehen.“

Er fasste das als Ermutigung auf, legte seine Hände auf ihre Hüften, küsste sie und versuchte dann, ihre Bluse zu öffnen. Sie wollte ihn abwehren, aber eine sinnlicher Schauer durchrann plötzlich ihren Körper. Nach einem weiteren Kuss nahm er sie auf die Arme und trug sie ins Schlafzimmer zum Bett. Ihre Erregung wurde stärker, ihr ganzes Inneres schien sich zu verkrampfen. Gleichzeitig war es aber auch ein wollüstiges Gefühl. „Du solltest vorher duschen“, ermahnte sie ihn. „Du warst den ganzen Tag unterwegs und es war heiß heute.“

Als er siegessicher pfeifend im Bad verschwunden war, huschte sie in die Küche und fing an, in den Schubladen etwas zu suchen. Sie entschied sich für ein langes dünnes Messer und nahm auch eine Rolle Papiertücher mit ins Schlafzimmer. Das Messer versteckte sie unter dem Kopfkissen.

Als Manfred zurück kam, lag Sylvia bereits völlig entkleidet auf dem Bett. „Komm schnell“, drängte sie mit heiserer Stimme und zog ihn an sich. Aber als er versuchte, in sie einzudringen, schien in ihrem Kopf etwas zu explodieren. Wirre Bilder erschienen vor ihren Augen. Schemenhaft sah sie ihren Bruder und das vor Entsetzen verzerrte Gesicht ihrer Mutter. Wie unter einem Zwang griff sie unter das Kopfkissen, fand das Messer und stieß es ihrem Liebhaber mit einem Aufschrei von hinten in den Nacken. Manfred gab ein gurgelndes Stöhnen von sich, richtete sich kurz auf und starrte sie mit glasig werdenden Augen an. Dann brach er zusammen.

Sie wand sich unter seinem schweren Körper hervor, ergriff das Messer mit einem Stück Papiertuch und ging in die Küche. Dort steckte sie es in die Spülmaschen und stellte diese an. Das Papiertuch ließ sie in der Toilette verschwinden. Ihre Nerven rasten. Mit äußerster Willensanstrengung zwang sie sich zur Ruhe, zog sich an und beseitige alle Spuren, die auf ihren Besuch hinweisen könnten. Danach verließ sie die Wohnung und zog die Tür leise hinter sich zu.

Auf Straße lehnte sie sich schwer atmend an die Hausmauer. Es war wieder passiert. Zügelloses Begehren ihres Bruders hatten sie damals zu einer Todsünde getrieben. Sie fühlte sich mit schuldig und ein innerer Dämon zwang sie immer wieder, die mörderische Tat ihrer Mutter zu wiederholen.

Um die unerträgliche Spannung abzureagieren lief Sylvia ziellos durch die nächtliche Stadt. An einem kleinen Platz stieß sie plötzlich wieder auf den Straßenjungen, der in das hell erleuchtete Schaufenster eines Lebensmittelladens starrte.

Was machst du hier?“, fragte sie ihn betroffen. „Warum bist du nicht zu hause?“

Ich habe kein Zuhause!“

Sie gab ihm Geld aus ihrer Handtasche. „Geh zum Bahnhof und kauf dir was zum Essen.“ Dann fragte sie, einem Impuls folgend: „Was ist dein Sternzeichen, Junge?“

Ich habe kein Sternzeichen“, und als sie ihn verständnislos ansah, fuhr er fort: „Meine Eltern sind beide tot. Ich weiß gar nicht, wann ich geboren bin.“ Er drehte sich um und trottete davon.

Brennendes Mitleid kam in ihr hoch. Mit zögernden Schritten ging sie weiter. Sie würde sich in Zukunft um den Jungen kümmern. Die Chance, dass er kein Stier war, war elf zu eins.

Die Polizei wurde einen Tag später von der Putzfrau des Ermordeten alarmiert. Die Beamten fanden keine Hinweise auf einen Besucher, jedoch stellten sie fest, dass offenbar nach dem Mord die Spülmaschine angestellt worden war.

Wenn die Mordwaffe da drin liegt, haben wir schlechte Karten“, bemerkte der Assistent. „Das ist schon der dritte Mordfall nach diesem Muster.“

Die Wunde ist nicht sehr groß“, sagte der Kommissar, der einige Jahre bei der Fremdenlegion in Nordafrika verbracht hatte, nachdenklich. „Fast wie der Stich eines Skorpions.“