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Schokoladentage

von Lothar Bendig

Auf den Journées du chocolat, den Schokoladentagen in Bayonne stand sie plötzlich vor ihm. Ihre Haut, braun wie heller Nougat, und ihre Lippen, rot wie reife Kirschen, in ihrem noch kindlich wirkenden Gesicht, das aber schon eine unverkennbare Sinnlichkeit ausstrahlte. Ihre Kleidung war einfach, aber farbenfroh mit einem roten Tuch als Gürtel über dem halblangen Rock und einer mit Blumen und Ornamenten bestickten Bluse. Ihre nackten Füße steckten in verstaubten Sandalen. „Ohne Zweifel eine Zigeunerin, und zwar eine besonders hübsche“, dachte er, blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie fasziniert an.

Sie war sichtbar verlegen, hielt seinem Blick aber stand. Dann huschte ein belustigtes Lächeln über ihr Gesicht. „Würden sie mich bitte vorbeilassen, Monsieur?“

Der junge Mann wusste, dass er jetzt schnell die Initiative ergreifen musste. Sonst war diese bezaubernde Schöne wieder weg. Sein Blick fiel auf das Aushängeschild eines Cafés. „Darf ich sie zu einer Schokolade einladen?“ Sie zögerte lange, als suche sie eine Ausrede, und er wollte sich schon enttäuscht abwenden.

Warum nicht“, sagte sie dann jedoch mit strahlendem Lächeln und hängte sich bei ihm ein. „Wohin wollen sie mich denn entführen?“

Da vorne gibt es heiße Schokolade mit Sahne.“ Er bugsierte sie durch das Menschengedränge zu dem Café.

Ist hier immer so viel los?“, wollte sie wissen.

Während der Schokoladentage stets“, entgegnete er und gab sich fachmännisch. „Bayonne feiert am 30. und 31. Mai die Geschichte der Schokoladenproduktion, die hier seit 1780 floriert. Überall in der Stadt kann man den Chocolatiers bei ihrer Arbeit zuschauen. Wie dort zum Beispiel.“ Und er zeigte auf einen Stand, an dem kunstvoll gefertigte Blumensträuße aus Schokolade zu sehen waren.

Sie fanden noch zwei Plätze in dem überfüllten Café und ließen sich die Trinkschokolade schmecken, ein Getränk, dem man ursprünglich alle möglichen medizinischen Wirkungen nachgesagt hatte. Dieser „Zaubertrank“ galt sogar einmal als Aphrodisiakum, mit dem die Mätressen des 18. Jahrhunderts die Leidenschaft ihrer Liebhaber wieder anfachten. Heute ist, wie es unter Kennern heißt, zumindest eine Wirkung unbestritten: Dass nämlich bei ihrem Genuss selbst die schrecklichste Gesellschaft angenehm erscheint.

Der junge Mann hätte dieses süße Mittel nicht gebraucht, um sich in der Gegenwart der attraktiven Zigeunerin wie im siebten Himmel zu fühlen, und er plauderte munter darauf los. Das junge Mädchen hörte ihm mit einem rätselhaften Lächeln zu und stellte nur ab und zu in holprigem Französisch eine Frage. Als er aber unter dem Tisch nach ihrer Hand griff, machte sie sich los und stand auf. Merci pour le chocolat“, sagte sie. „Ich muss jetzt gehen.“ Und Sie verschwand mit ihrer Umhängetasche.

Er sprang auf und drängte sich zur Kasse, um schnell zu bezahlen und ihr zu folgen. Als er aber nach seinem Portemonnaie griff, stellte er fest, dass es verschwunden war. Ihn durchfuhr es siedend heiß. Es musste ihm gestohlen worden sein.

Die Kassiererin trommelte ungeduldig mit den Fingern einer Hand auf den Kassentisch. Der Kunde hatte den Rechnungsbetrag offenbar nicht verstanden und sie zeigte auf das Display der Kasse.

Ich fürchte, ich kann nicht zahlen“, stammelte er mit hochrotem Kopf. „Mein Portemonnaie, ... mein Portemonnaie! Es ist weg! Gestohlen!“

Der Blick der Kassiererin wurde zusehends unfreundlicher und sie winkte einem großen, Respekt einflößenden Mann hinter der Theke zu, der mit gewichtigen Schritten näher kam. Offenbar der Chef. „Der Herr hier gibt vor, nicht zahlen zu können“, sagte die Kassiererin mit spitzer Ironie.

Der junge Mann versuchte, dem Café-Besitzer seine Lage zu erklären. „Das klingt ja alles plausibel“, bemerkte dieser dann, „aber ich muss trotzdem die Polizei rufen“. Die Kassiererin hatte den Telefonhörer schon in der Hand, wählte eine Nummer und forderte eine Polizeistreife an. „Sie warten solange dort hinten“, sagte der Café-Besitzer mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

Ein paar Straßen weiter betrat ein junges Mädchen mit langem, schwarzem Haar und bunter Kleidung ein Schokoladengeschäft. Vor den Auslagen blieb sie andächtig stehen und ihre dunklen Augen versuchten, die vielen Delikatessen aus Schokolade auf einmal zu erfassen. „Kann ich ihnen helfen?“, fragte der Ladenbesitzer mit liebenswürdiger Stimme.

Das Mädchen riss sich von dem überwältigenden Anblick los. „Was ist das Leckerste, das sie haben?“, fragte sie schließlich.

Nun, das wären zum Beispiel hier diese köstlichen Pralinen mit den Pistazien oben drauf“.

Und das Schönste? Alles ist so wunderbar, dass ich mich kaum entscheiden kann“.

Mein Meisterwerk sind diese Rosen hier aus zwei verschiedenen Schokoladen“, antwortete er geschmeichelt. „Sie enthalten sogar etwas Rosenöl und sind sehr kostbar.“

Packen sie mir von jedem etwas ein“, entschied das junge Mädchen schließlich, „aber nur eine kleine Menge. Ich habe nicht viel Geld.“ Sie griff in ihre Umhängetasche und holte zum Bezahlen ein abgewetztes Herren-Portemonnaie hervor. Der Chocolatier folgte ihrem Wunsch und begleitete sie dann mit vielen Verbeugungen zur Ausgangstür.

Im Café waren mittlerweile zwei Polizisten eingetroffen, denen der junge Mann seine Geschichte erzählte. Als er die Zigeunerin erwähnte, lachte einer der Beamten laut auf. „Sie sind nicht der einzige Geschädigte. Um diese Zeit wimmelt es hier von Taschendieben. Auch von weiblichen, die gut aussehen.“

Die Beamten fertigten ein Protokoll an, das der Bestohlene unterschreiben musste. „Sobald sie sich wieder mit Geld versorgt haben, kommen sie hierher, um ihre Schulden zu bezahlen“, wurde er noch ermahnt. „Sonst gibt es eine offizielle Anzeige“.

Der junge Mann verließ das Café und machte sich daran, die ganze Innenstadt von Bayonne zu durchkämmen in der Hoffnung, die Diebin zu finden. Er musste sich durch lachende und glückliche Menschen durchkämpfen, die aus Tüten delikate Leckereien naschten. Wäre er nicht so verzweifelt gewesen, so hätte er sich ganz dem betörenden Schokoladenduft hingeben können, der durch die Gassen von Grand Bayonne schwebte.

Nach vielen Stunden gab er auf, ohne sie gefunden zu haben. Resigniert machte er sich auf den Weg nach Hause, doch als er das große Tor unter der Stadtmauer durchquert hatte, das sich zu dem davor liegendem Park öffnete, sah er sie. Sie wollte zuerst davonlaufen, doch dann blieb sie stehen, griff in ihren Stoffbeutel und legte etwas auf die niedrige Mauer am Straßenrand. Er kam näher und sie musterte ihn mit ihren schwarzen Augen teils ängstlich, teil belustigt.

Bitte nicht böse sein“, sagt sie in ihrem gebrochenen Französisch und wies auf die Mauer. Er sah, dass sie sein Portemonnaie dorthin gelegt hatte.

Sein Blick hing jedoch begehrlich an ihrem roten Mund und aller Zorn auf sie war verschwunden. Er legte seine Arme um sie und versuchte, sie zu küssen, aber sie machte sich lachend los und lief leichtfüßig davon. Wehmütig sah er ihr nach. Sie blieb noch einmal stehen, drehte sich um und warf ihm eine Kusshand zu. Diese Abschiedsgeste traf ihn tief ins Herz. Dann verschwand sie hinter den Bäumen des Parks.

Als er sein Portemonnaie an sich nehmen wollte, sah er, dass sie ihm eine Rose aus zarter, zweifarbiger Schokolade dazu gelegt hatte. Er nahm die kleine Delikatesse in die Hand und stellte sich vor, dass das verführerische Parfüm der Schokolade der Duft ihrer braunen Haut sei. Und als er hineinbiss, spürte er die schmelzende Süße, als wären es ihre weichen Lippen. Es ließ die delikate Mischung auf der Zunge zergehen und empfand diesen Genuss wie ein erotisches Erlebnis.

Als er sein Portemonnaie kontrollierte, stellte er fest, dass hundert Euro fehlten. „Bitte nicht böse sein“, hallte ihre sanfte Stimme mit dem reizvollen Akzent in seinen Ohren nach.

Nächstes Jahr werde ich wieder die Journées du chocolat in Bayonne besuchen“, beschloss er. „Vielleicht sehe ich sie dann wieder.“