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Der junge Vampir

von Lothar Bendig

Der junge Vampir wurde auf dem Dachboden des alten Schlosses durch ungewohnte Geräusche aus dem Schlaf aufgeschreckt. 'Dass heute immer alles so laut sein muss!', dachte er. Das war ganz anders in seiner Jugendzeit. In dem kleinen, beschaulichen Dorf in Transsylvanien. Da war er nämlich geboren.

Vater und Mutter waren auch Vampire.

Ihn zu erziehen, war nicht leicht gewesen. Mehr als einmal konnte sich seine Mutter nur unter Aufbietung all ihrer Willenskräfte davon abhalten, das Blut ihres Kindes zu kosten. Aber Mutterliebe ist stärker.

Als er achtzehn und damit erwachsen wurde, gab es keinen Grund mehr für diese Zurückhaltung. Der junge Vampir erinnerte sich daran, dass es zu einem ernsthaften Streit zwischen Vater und Mutter gekommen war über die Frage, wer zuerst beißen durfte. Mutter hatte sich, wie immer, durchgesetzt. Sie sah es als einen letzten Liebesdienst an ihrem Sohn an, ihn dadurch – standesgemäß – in den Kreis der Vampire aufzunehmen.

Vater betrachtete ihn nun als einen Konkurrenten. Das kleine Dorf konnte seiner Meinung nach drei Vampire nicht ernähren.

Junge“, sagte er, „du kannst nicht hier in dem Kaff versauern. Geh hinaus in die weite Welt“. Er ließ sich seine Absicht, ihn los zu werden, etwas kosten und schickte ihn in einem Holzsarg mit einem Leichenwagen nach Deutschland, wo er in einem kleinen, verlassenen Schloss deponiert wurde.

Hier lag er nun schon seit dreihundertfünfzig Jahren und fristete nachts ein bescheidenes Vampir-Dasein.

An diesem Abend musste es seiner Berechnung nach schon dunkel sein, und er lüftete vorsichtig den Sargdeckel. Mit einem gequälten Aufschrei ließ er ihn aber wieder zufallen, weil der letzte Schein der untergehenden Sonne geradewegs durch das Dachfenster fiel. Er unterdrückte einen Fluch, weil es sich die Finger eingeklemmt hatte, und zwang sich dazu, noch eine Weile zu warten, obwohl die Geräusche lauter wurden und seine Neugier mehr und mehr erregten. Offenbar wurde vor dem Schloss ein Fest gefeiert.

Schließlich fühlte er sich sicher, öffnete den Sargdeckel ganz und kletterte mühsam heraus. Alles an ihm war wie eingerostet. Die junge Orthopädin vom ärztlichen Notdienst, der er neulich nachts einen Besuch abgestattet hatte, weil ihm nichts anderes mehr zur Stillung seines Blutdurstes eingefallen war, hatte recht: Zu viel liegen ist nicht gut für die Gelenke. Er leckte sich heute noch die Lippen, wenn er an den köstlichen Geschmack ihres Blutes dachte.

Aber es war jetzt an der Zeit, hinunterzugehen.

Eine alte Turmlaterne warf ihr trübes Licht in die Dachkammer, und der junge Vampir betrachtete sich in einem zerbrochenen Spiegel. Er zupfte die Fliege zurecht und strich den Frack glatt. Er fand, dass er gut aussehe, und machte sich voll Selbstvertrauen über die alte, knarrende Treppe auf den Weg nach unten.

Als er am Schlosseingang angekommen war, setze mit Riesengetöse die Partymusik ein. Er hielt sich entsetzt die Ohren zu. Diese moderne Art der Geräuscherzeugung war nicht zu vergleichen mit der leidenschaftlichen Zigeunermusik und dem Geschluchze der Geigen, die er aus seiner Jungenzeit kannte. 'Amerikanischer Beat mit japanischen Verstärkern und chinesischen Lautsprechern wiedergegeben. Das ist Globalisierung', dachte er resigniert, 'aber man muss mit der Zeit gehen.'

Er trat ins Freie, prallte jedoch zurück, als eine schrille, weibliche Stimme kreischte:

Seht euch mal den an! Der denkt sicher, er sei auf einem Kostümfest!“

Der Vampir blickte an sich herunter und musste der Stimme recht geben. Zu der lässigen Kleidung der Partygäste passte sein Aufzug nicht.

Aber schon hatten die jungen Leute ihn umringt, lachten, betasteten seinen Anzug und schubsten ihn herum. Ihm wurde mulmig zumute, und er wollte sich zurückziehen. Aber da drängte sich eine hübsche, üppige Blondine in den Kreis und tat, als wolle sie ihn schützend umarmen.

Ich mag elegante Männer“, schrie sie die anderen lachend an. „Lasst ihn in Ruhe!“ Und sie hängte sich bei ihm ein und zog ihn mit sich.

Wo kommen sie her?“, fragte sie ihn.

Ich wohne hier.“ Er sagte das in einem Ton, als müsste sie das wissen.

Die Blondine prustete los: „Der letzte Bewohner dieses Schlosses ist schon vor Jahrhunderten gestorben. Wenn sie das sind, dann müssen sie ein Gespenst sein."

'Damit hättest du gar nicht so unrecht', dachte der Vampir bei sich, sagte aber nichts.

Sie führte ihn zwischen den lachenden und schwatzenden Menschen herum und stellte ihn vor. „Das ist der Graf vom Schloss“, sagte sie kichernd. Die Partygäste bogen sich vor Lachen. Dem Vampir wurde ganz wirr im Kopf von dem vielen „Hallo“ und „Hi“.

Schließlich gerieten sie an einen stämmigen Mann mittleren Alters, der sich aufführte, als hätte er die ganze Feier finanziert. Er klopfte dem jungen Vampir jovial auf die Schulter und schüttelte ihm die Hand. „Mein Gott“, sagte er, „haben sie kalte Hände“.

Die hübsche Blondine zog ihren neuen Freund besorgt auf eine Bank, nahm seine Hände in ihren Schoß und fing an, sie zu reiben. Als das nicht wirkte, klemmte sie seine Hände zwischen ihre Oberschenkel. „Ich hoffe, das hilft“, sagte sie schelmisch lachend.

So was lässt auch einen Vampir nicht kalt, und er musste an sein erstes und einziges Liebesabenteuer denken. Damals mit siebzehn Jahren in dem kleinen Dorf in Transsylvanien, als eine dralle Magd ihn in einer Scheune verführt hatte. Ein süßes Gefühl stieg in ihm hoch. 'Ich glaube, ich sollte mal einen Psychiater konsultieren', kam es ihm in den Sinn. 'Solche Gefühle ziemen sich nicht für einen anständigen Vampir.'

Bevor er diesen Gedanken weiter spinnen konnte, sprang sie plötzlich auf. „Komm, lass uns tanzen! Das bringt dich in Schwung.“

Sie tanzte mal eng an ihn geschmiegt, mal wirbelte sie ihn ausgelassen herum. Ihm wurde ganz schwindelig. Sein Kreislauf war doch nicht mehr trainiert. Kein Wunder bei der vielen Herumliegerei in diesem ollen Holzsarg. Wenn sie nah bei ihm war, suchte sein Mund instinktiv ihren Hals. Ihr Parfüm steigerte seinen Appetit noch. Aber immer, wenn er zubeißen wollte, schüttelte sie lachend den Kopf, so dass ihm ihre langen Haare ins Gesicht flogen.

Das kitzelt“, sagte sie glucksend.

Schließlich hatte sie das Tanzen satt und zog ihn zum Buffet. „Sind das nicht leckere Sachen hier?“, schwärmte sie. „Besonders das da hinten. Sehr pikant und viel Knoblauch drin.“

Bei dem Wort Knoblauch zuckte er zusammen und sein Magen drehte sich um. Für einen Vampir das reinste Gift! Er blickte hilflos auf dem Buffet herum. Nichts für ihn dabei. Nicht einmal eine kleine Blutwurst. Schließlich stellte er sich einen Salat aus Petersilie, Kresse und Fenchel zusammen. Bei seinem nächtlichen Herumgeistern in der alten Schlossbibliothek hatte er gelesen, dass diese Pflanzen viel Eisen enthalten, und dass dieses Mineral die Blutbildung stärkt.

Die hübsche Blonde war kurz verschwunden und kam jetzt mit zwei Glas Rotwein zurück.

Prost“, sagte sie und drückte ihm eins in die Hand.

Begierig schlürfte er die blutrote Flüssigkeit – und hätte sie beinahe wieder ausgespuckt, wenn nicht seine gute Erziehung ihn daran gehindert hätte. Er kam zu dem Schluss, dass heute nicht sein Tag bzw. seine Nacht sei. Er hatte ohnehin in letzter Zeit etwas zugenommen, und eine Nacht Null-Diät würde sicher nicht schaden.

Er wollte sich diskret zurückziehen, aber da warteten schon viele andere Mädchen, die mit ihm tanzen wollten. Sie wirbelten ihn herum, reichten ihn zur nächsten Tänzerin weiter, schmiegten sich an ihn und ließen ihn wieder los. Sein Magen krampfte sich vor Hunger immer mehr zusammen durch die schönen Dekolletés, die er unerreichbar vor Augen hatte. Eigentlich hätte er stolz darauf sein können, dass ein eleganter, junger Mann aus dem 17. Jahrhundert auf die Damenwelt mehr Eindruck machte, als die unromantischen Burschen der Gegenwart. Aber er litt Höllenqualen.

Zum Glück neigte die Party sich jetzt dem Ende zu, die meisten Gäste waren gegangen und der Morgen dämmerte schon. Die hübsche Blondine war plötzlich wieder da.

Komm mit“, raunte sie ihm zu, „ich zeig dir was“.

Ihre Stimme klang schon etwas verwaschen und sie schwankte leicht. Aber zielstrebig zog sie ihn in den hinteren Teil des Gartens. Dort ließ sie sich rückwärts ins Grase fallen und sagte kichernd:

Leg dich zu mir, am besten auf mich drauf“.

Der junge Vampir folgte ihrer Aufforderung und sah seine Chance gekommen. Vor sich sah er ihren makellosen, weißen Hals und entblößte genüsslich seine Eckzähne. Das Blut dieser sinnlichen Frau musste besonders gut schmecken.

In dem Moment brach der erste Sonnenstrahl durch die Dunkelheit und der Vampir schrie laut auf. Als er sich aufrichtete, fiel sein Blick auf das Kreuz an der Tür zur Schlosskapelle. Er sank zur Seite und stöhnte laut.

Was ist“, schrie sie entsetzt.

Ich glaube, ich muss sterben“, röchelte er.

Nein, nein, du darfst nicht sterben!“ Durch die Tränen, die ihr in die Augen schossen, sah sie ihn nur verschwommen, aber sie hatte das Gefühl, dass er sich mehr und mehr von ihr entfernte, als würde nicht nur seine Seele, sondern auch sein Körper Abschied nehmen.

Als sie sich die Augen freigewischt hatte, war er verschwunden. Sie wunderte sich allerdings, woher all der modrige Staub um sie herum herkam. Sie stand unsicher auf und klopfte sich das Kleid ab.

'Typisch', sagte sie zu sich selbst. 'Mal wieder zu viel getrunken.'