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Vom Satan gesandt

von Lothar Bendig



Der Zeitpunkt ist gekommen, auf den du vorbereitet wurdest“, sagte der hagere Unbekannte mit den tief liegenden, glühenden Augen und der hohlen Stimme und drückte Hassan mit ausgemergelten Fingern einen Schließfachschlüssel in die Hand.

Nein“, stöhnte dieser voller Entsetzen und ließ den Schlüssel fallen, als hätte er ein heißes Stück Metall angefasst. Das Blut schoss ihm mit hämmerndem Puls in den Kopf. „Das könnt ihr nicht von mir verlangen!“ Panik stand in seinen Augen.

Allah will, dass du es tust, mein Bruder!“ Die Stimme des unheimlich wirkenden Mannes war jetzt eiskalt und klang, als ob sie keinen Widerspruch dulde. Er sah Hassan lange mit stechendem Blick an. Dann wandte er sich abrupt zum Gehen, schlurfte mit schleppenden Schritten den Bahnsteig entlang und verschwand im letzten Wagen des wartenden Nachtzuges. Dieser fuhr kurz danach mit leisen Surren an und glitt dann fast geräuschlos aus der Halle.

Der Bahnsteig war nun leer, bis auf Hassan. Dieser hatte sich mit zitternden Händen eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. Erst als der letzte Wagen in der Dunkelheit verschwunden war, ging der Puls von Hassan auf normale Werte zurück. Der heftige Schmerz, der seinen Kopf wie mit einem eisernen Griff umklammert hielt, blieb jedoch, und vor seinen Augen flackerte das Licht wie ein defekte Glühbirne

Es war das eingetreten, vor dem er sich all die Jahre gefürchtet hatte! Von dem er gehofft hatte, dass es nie passieren würde. Er trat die heruntergebrannte Zigarette mit der Schuhspitze aus und stierte wie hypnotisiert auf den Schließfachschlüssel auf dem Boden. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Schließlich hob er den Schlüssel auf und ging langsam vom Bahnsteig zurück in das Bahnhofsgebäude. Hier sollte es also stattfinden!

Er stolperte ziellos durch die große, jetzt fast menschenleere Halle. Zusammenhanglose Gedanken rasten durch seinen Kopf. Jeder musste ihm ansehen, was in ihm vorging, bildete er sich ein. Schweiß brach ihm aus, als ein Polizist ihn misstrauisch musterte. Hassan riss sich zusammen und versuchte, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Die Überwachungskameras waren nicht zu übersehen, die jeden Winkel des Gebäudes beobachteten. Er blieb hinter einer Säule stehen, atmete ein paarmal tief durch und überlegte, was er tun sollte.

In diesem Augenblick quoll aus der Bahnhofskneipe eine Horde stark angetrunkener Fußfallfans hervor, die mit ihren Fahnen johlend geradewegs auf die Schließfächer zusteuerten. Hassan mischte sich geistesgegenwärtig unter die Gruppe und fand sein Fach, aus dem er einen prall gefüllten Rucksack hervorzerrte. Er verließ den Bahnhof durch einen dunklen Nebenausgang ohne Aufsehen zu erregen.

Schwer atmend setzte er sich in seinen Wagen. Die Kopfschmerzen ließen allmählich nach, das Flimmern von den Augen aber blieb und sein Magen revoltierte. Warum musste er es tun? Warum ausgerechnet er? Seit acht Jahren lebte er nun in Deutschland, hatte viele nette Menschen kennengelernt und Freunde gewonnen. Konnte man ihn zwingen, aus religiösen Motiven etwas so Ungeheuerliches zu tun, wie es jetzt von ihm verlangt wurde? Er presste die zusammengeballten Fäuste gegen seine Augen und suchte nach einem Ausweg. Vergeblich! Eine innere Macht war stärker, als sein Aufbegehren, und zwang ihn, sich von nun an auf seine Aufgabe zu konzentrieren.

Er öffnete den Rucksack und kontrollierte dessen Inhalt. Er fand alles, was er für seine Tat brauchte. So, wie es ihm damals im Trainingscamp in Afghanistan eingebläut worden war. Gemäß der beiliegenden, in arabisch geschriebenen Anweisung sollte er am nächsten Tag um punkt zwölf Uhr seinen Auftrag ausführen. Er war jetzt eiskalt und gefasst, fuhr nach Hause und versteckte den Rucksack in der Garage.

Als er seine Wohnung betrat, sah seine Frau Aisha, dass etwas mit ihrem Mann nicht stimmte. Sein Gesicht war kreidebleich und in seinen Augen glomm ein fanatisches Leuchten. Sie begriff sofort. „Ist es soweit?“, fragte sie mit bebender Stimme. Er nickte wortlos. In ohnmächtiger Wut begann sie, mit ihren Fäusten auf seine Brust einzutrommeln, aber er blieb steif stehen wie eine Metallstatue. Dann legte sie den Kopf auf seine rechte Schulter und weinte lautlos. Nach einer Weile machte er sich los, drückte seinen Sohn Zaid kurz an sich, ging ins Schlafzimmer und legte sich hin. Er sprach kein Wort mehr zu Aisha.

In dieser Nacht schlief Hassan sehr unruhig, redete im Traum und schlug mit den Armen um sich. Der ins Zimmer scheinende Mond warf sein gespenstisches Licht auf die Silhouette der Frau, die aufrecht auf der Bettkante saß und den wirren Worten ihres Mannes lauschte. Am Morgen wusste sie, was sie tun musste.

Aisha hatte mit ihrem Sohn schon das Haus verlassen, als Hassan sich in der Garage fertigmachte. Seine Bewegungen wirkten mechanisch, wie die eines Roboters, als er die Sprengstoffgurte mit Pflaster direkt auf seinem Körper befestigte. Anschließend installierte er den Zündmechanismus und zog eine dicke Jacke über. Sein Wagen sprang erst nach dem fünften Startversuch an, so als wolle ihm der alte Ford diesmal seinen Dienst verweigern.

Am Bahnhof kaufte Hassan ein Parkticket für vierundzwanzig Stunden und legte es auf den Fahrersitz. Seine Frau sollte nicht das hohe Bußgeld zahlen müssen, wenn sie am nächsten Tag den Wagen abholen würde.

Dann ging er langsam, aber mit entschlossenen Schritten in das Bahnhofsgebäude und schob sich durch die Menschenmenge: lärmende Männer und schrille Frauen mit knallbunten Kleidern, die nur das Nötigste bedeckten. Allah würde durch ihn unter diesen Ungläubigen ein Exempel statuieren. Als er da ankam, wo das Gedränge am größten war, ertönte plötzlich eine gellende Frauenstimme:

Macht Platz! Geht weg! Alle!“

Die Menschmenge öffnete sich schlagartig und Hassan sah seine Frau, die mit seinem Sohn mitten in der Bahnhofshalle stand. Sie trug ein Kopftuch in der Art, wie es gläubige Musliminnen tragen. Sie hatte ihr schönstes ausgesucht. Hassan erinnerte sich daran, als er es ihr geschenkt hatte. Sie war ihm vor Freude um den Hals gefallen.

Doch jetzt gefror bei ihrem Anblick das Blut in seinen Adern. Ausgerechnet Aisha wollte sich seinem heiligen Auftrag widersetzen. „Frau, hat dich der Satan gesandt?“, schrie er mit überschnappender Stimme.“

Nein“, schrie sie zurück. „Wir sind hier, weil wir dich lieben. Ich und dein Sohn.“ Sie zog das Kind beschützend an sich. Ihre Stimme ging in ein lautes Schluchzen über. „Töte uns und verschone andere, unschuldige Menschen“, stammelte sie unter Tränen.

Die Gedanken in seinem Kopf fingen an, Amok zu laufen. Allah konnte doch nicht wollen, dass er seine Frau und seinen Sohn mit in die Luft sprengte. Er streckte abwehrend beide Hände in Richtung auf die näherkommende Aisha, als sähe er ein Gespenst. „Hassan, komm mit uns nach Hause!“, rief sie, aber er taumelte mit verzerrtem Gesicht nach hinten. Am Eingang zum Bahnhofsgebäude fiel er rückwärts die Treppe hinunter, rappelte sich wieder auf und lief in den vor dem Bahnhof liegenden Park. Aisha, Zaid und die neugierig gewordene Menschenmenge, die nicht wusste, um was es ging, folgten ihm. Auf einer Wiese blieb Hassan keuchend stehen. Was sollte er nur tun?

In diesem Moment schob sich eine schwarze Wolke vor die Sonne und der Himmel verdunkelte sich. Hassan griff in seine Jacke und seine Hand fand den Zünder. „Allah, steh mir bei!“, ächzte er laut. Seine Stimme wurde übertönt vom ohrenbetäubenden Knall der Detonation. Plastikpartikel, Erde und Gras spritzten bis zu den umstehenden Menschen. Aisha stieß einen markerschütternden Schrei aus, der in ein haltloses Wimmern überging. Die Menschenmenge stieb panikartig auseinander.

Als der Rauch sich verzogen hatte, erwachte die Frau aus ihrer Erstarrung. An der Stelle, an der Hassan gestanden hatte, war nur noch ein großer Krater zu sehen. Aisha nahm mit zitternden Händen das Kopftuch ab und warf es in einen Abfalleimer. Dann ging sie, wie in Trance, mit schleppenden Schritten durch die gaffende Menschmenge davon, das weinende Kind hinter sich herziehend. Aus der Ferne ertönten schnell näher kommende Polizeisirenen.