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Notfall an der Haltestelle

von Lothar Bendig

Heinz Landenberg*) beschloss, an diesem Abend früher heimzugehen. Die Diskussionen am Stammtisch waren heftiger verlaufen, als gewohnt. Böse Worte waren zum Schluss hin und her geflogen. Heinz, ein Mann von 55 Jahren, hatte sich mit hochrotem Kopf gegen die Angriffe seiner Stammtischbrüder verteidigen wollen, als er plötzlich einen stechenden Schmerz in seiner linken Kopfhälfte verspürte. Die Bilder vor seinen Augen flackerten wie eine defekte Glühbirne. Dann schien plötzlich wieder alles normal zu sein, aber eine innere Stimme schlug Alarm. Er stand schwerfällig auf, zog seine gefütterte Jacke an, ging zur Theke und zahlte. Als er auf unsicheren Beinen die Dorfkneipe verließ, rief einer seiner Kumpanen hinter ihm her: „Du verträgst offenbar auch nichts mehr. War wohl ein Bier zu viel.“

Draußen war neuer Schnee gefallen, und die eisige Kälte des Winters erfasste Heinz mit ihrer ganzen Wucht. Er schlug den Kragen hoch, um sich zu schützen. Die Kopfschmerzen waren wieder da, diesmal nicht stechend sondern im Rhythmus seines Pulses hämmernd. Plötzlich hatte er Angst, die Treppe runterzugehen. Er hielt sich mit der rechten Hand am Geländer fest und stieg mit zitternden Knien die Stufen hinunter. Das Gelände musste wohl sehr kalt sein, den seine Hand schien wie betäubt. Der scharfe Wind blies ihm ins Gesicht, aber seine rechte Gesichtshälfte war gefühllos, als hätte sein Zahnarzt ihm dort gerade eine Spritze verpasst.

Heinz hatte es nicht weit nach Hause. Er wohnte gleich hinter der Bushaltestelle. Er stolperte auf den Bordstein, um einem Bus auszuweichen, der gerade wieder anfuhr, und trat dann mit seinem rechten Bein wieder auf die Straße. Aber er trat ins Leere, als sei sein Bein nicht mehr da. Er stürzte der Länge nach hin. Nur der Schnee dämpfte die Wucht seines Falls. Er versuchte aufzustehen, aber seine rechte Körperseite gehorchte ihm nicht mehr. Mit großer Anstrengung gelang es ihm, sich mit dem linken Arm am vorstehenden Ast eines Busches auf den Bürgersteig zu ziehen. Gerade rechtzeitig genug, um einem Auto auszuweichen, das mit erhöhter Geschwindigkeit an der Bushaltestelle vorbei preschte und ihn mit Schneematsch überschüttete.

Heinz legte sich auf den Rücken und starrte in den glasklaren Himmel. Die funkelnden Sterne schienen ihn zu rufen und der helle Mond warf sein gespenstisches Licht auf die Häuser und die Straße. Panik raste in seinem Kopf, aber ihm wurde klar, dass er jetzt warten musste, bis Hilfe kam. Autos fuhren vorbei, aber sie reagierten nicht auf sein Winken. Der Frost kroch langsam in ihm hoch. Dann näherte sich ein Bus, hielt an und ein Paar stieg aus. Der Mann wies auf Heinz, aber die Frau zog ihn schnell weg. „Ein Skandal ist das“, sagte sie mit empörter Stimme, „wie heutzutage schon am frühen Abend die Betrunkenen auf der Straße rumliegen.“

Die Tür des Dorfgasthauses flog auf. Eine Gruppe johlender, offenbar stark alkoholisierter Männer trat heraus, die Stammtischbrüder von Heinz, zu denen auch der Bürgermeister zählte. Sie machten sie mitten auf der verschneiten Straße in Richtung Bushaltestelle auf den Weg. „Seht doch mal“, lachte einer hämisch. „Das liegt der Heinz. Stockbesoffen!“ Er wollte sich dem am Boden liegenden Mann nähern, doch einer der anderen hielt ihn zurück. „Ist er doch selber schuld, wenn er so viel trinkt und dann am Stammtisch so einen Stuss redet. Die Kälte wird ihm bald Beine machen.“ Und sie zogen grölend und singend weiter.

Heinz fing an zu zittern. Die Unterkühlung machte sich nun bemerkbar. Die Zähne klapperten, Arme und Beine machten unkontrollierbare Bewegungen und seine Atmung schien zu versagen. Plötzlich drangen Kinderstimmen an sein Ohr. „Guck doch mal, da liegt einer! Ob der tot ist?“ Zwei etwa 12-jährige Jugendliche, ein Mädchen und ein Junge, beugten sich über ihn. Heinz hob mühsam den linken Arm und zeigte in die Richtung des nächsten Hauses. „Der lebt noch“, sagte das Mädchen, „wir müssen Hilfe holen.“ Ein Auto näherte sich, der Junge trat auf die Straße und winkte. Das Fahrzeug hielt an, der Fahrer stieg aus und erfasste die Situation sofort. Er holte eine Decke aus dem Kofferraum, die er über den am Boden liegenden Mann breitete, und telefonierte nach einem Notarztwagen.

Das Mädchen war mittlerweile der Richtung der ausgestreckten Hand des Mannes gefolgt und hatte an der Tür des Hauses geklingelt. Eine Frau öffnete.

Da liegt einer“, sagte das Mädchen, „er hat immer hier auf das Haus gezeigt. Kennen sie ihn?“ Die Frau trat näher und stieß einen Schrei des Entsetzens aus.

Das ist doch mein Mann.“ Sie kniete nieder und nahm seinen Kopf in die Hände. „Was ist passiert, Heinz? Nun rede doch!“ Der Mann schüttelte den Kopf und brachte nur lallende Laute heraus. Die Frau blickte die anderen ratlos an, doch in diesem Augenblick näherte sich schon das durchdringende Signal des Ambulanzwagens.

Das Notarztteam verlor keine Zeit. Die Frau von Heinz durfte auf dem Beifahrersitz Platz nehmen und der Rettungswagen fuhr mit Blaulicht ins nächste Krankenhaus. Dort stellten die Ärzte schnell fest, dass Heinz Landenberg einen Schlaganfall erlitten hatte. Im Gehirn wurde eine Schwellung diagnostiziert, die in einer Notoperation beseitigt werden musste. „Ob ihr Mann jemals wieder ganz genesen wird, ist fraglich“, sagte der behandelte Arzt später zu Frau Landenberg. „Sie hätten früher kommen müssen. In so einer Situation zählt jede Minute.“ Frau Landenberg schluckte eine Antwort hinunter, verließ das Krankenhaus und ließ sich von einem Taxi heimfahren.

Am nächsten Tag ging sie in Dorfgasthaus und ließ sich von der jungen Bedienung schildern, wie der gestrige Abend verlaufen war, wann ihr Mann und wann die anderen vom Stammtisch das Gasthaus verlassen hatte. Demzufolge hatte Heinz mehr als eine Stunde hilflos draußen im Schnee gelegen. Frau Landenberg ging zur Polizei und erstattete Strafanzeige gegen Unbekannt wegen unterlassender Hilfeleistung. Dann rief sie das Büro der örtlichen Tageszeitung an und schilderte den Vorfall. Die Redaktion stellte eine telefonische Anfrage beim Bürgermeister des Ortes um bat für den nächsten Tag um eine Pressekonferenz. Der Bürgermeister schloss sich daraufhin in seinem Büro ein, griff zum Telefonhörer und führte einige, im Wesentlichen gleichlautende Gespräche. „Habt das mit dem Heinz gehört? Wie konnte man denn ahnen, dass der einen Schlaganfall hatte. Wir müssen uns heute Abend unbedingt treffen. Aber äußerste Diskretion bitte, sonst hängen wir mit drin.“

Im kleinen Konferenzzimmer des Rathauses trafen sich an diesem Abend einige sehr nervös wirkende Männer. Der Bürgermeister stellte sicher, dass alle Angestellten nach Hause gegangen waren, und schloss die Tür. Nach kurzer Diskussion fasste er das Ergebnis so zusammen. „Also, wir haben nichts gesehen, liebe Kameraden. Und so wie der Heinz sich immer aufgeregt hat, wäre das früher oder später ohnehin passiert. Und ob dann gleich einer bereitgestanden hätte, ihn ins Krankenhaus zu fahren, sei dahingestellt. Wenn wir alle das Maul halten, kann uns keiner die Schuld zuschieben.“ Damit verließen die Männer unauffällig das Rathaus durch die Hintertür.

Die Pressekonferenz im Rathaus am nächsten Tag war öffentlich. Der Reporter ließ zunächst einen Anwalt zu Wort kommen, den er eigens für diesen Anlass mitgebracht hatte. „Unterlassene Hilfeleistung“, erklärte dieser am Schluss seiner Ausführungen, „ist eine Straftat, die vom Gericht entsprechend geahndet werden kann. Er versteht sich aber auch von selbst, dass Hilfeleistung in Notfällen eine Bürgerpflicht ist.“ Ein älteres Paar, das in der hintersten Reihe gesessen hatte, hatte es plötzlich eilig, wegzukommen. Der Reporter forderte dann den Bürgermeister zu einer Stellungnahme auf. Dieser wirkte sehr angespannt und wischte sich bei seinen Ausführungen ein paar Mal mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

Das mit dem Heinz Landenberg, einem angesehenen Bürger unserer Gemeinde, ist ein tragischer Fall“, sagte er abschließend, „aber ich bin völlig sicher: Wenn ihn einer so gesehen hätte, dann wäre ihm geholfen worden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendeiner aus unserem Dorf vorübergegangen wäre.“ Eine Frau, die sich unter den Zuhörern befand, lachte plötzlich hysterisch auf, als hätte sie einen makaberen Witz gehört. Dann verfiel sich in einen Weinkrampf. Zwei hilfsbereite Männer mussten Frau Landenberg nach draußen führen.



*) Personen und Namen dieser Geschichte sind frei erfunden